Ein guter Mensch scheitert an der Welt – Der Idiot auf Kampnagel
von Katrin Dürwald
Er sieht aus wie ein verletzlicher Träumer, spricht mit weicher
und heller Stimme, abgetragene Kleidung schlottert um seinen schmächtigen
Körper. Fast unterwürfig bittet Fürst Myschkin (gespielt von André Kaczmarczyk)
in der St. Petersburger Gesellschaft um Aufnahme, doch seine hohen moralischen Werte
und die naiv-offene Art werden nicht gut aufgenommen. Am Ende wird er von ihr verschlungen.
André Kaczmarczyk als verletzlicher Fürst Myschkin |
Matthias Hartmann hat den Roman „Der Idiot“ von Dostojewski
für die Bühne adaptiert. Intendant Wilfried Schulz hat das Stück im Jahr 2016
von Dresden nach Düsseldorf geholt, und in diesem Jahr war das Stück im Rahmen
der Hamburger Theaterfestivals auf Kampnagel zu sehen.
Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, der letzte Nachfahr eines
verarmten russischen Adelsgeschlechts, kehrt nach einer langjährigen Behandlung
aus einem Schweizer Sanatorium zurück. Auf der Heimreise trifft er den
Kaufmannssohn Parfjon Rogoschin (Christian Erdmann), der sich nach der schönen
Nastassja Filippowna (Yohanna Schwertfeger) verzehrt, einer ehemaligen Mätresse.
Auch Myschkin ist verzaubert von ihrer Schönheit, und ebenso ergeht es dem mittellosen
Hofsekretär Ganja Iwolgin (Kilian Land), der sich auf den Deal eingelassen hat,
die ehemalige Geliebte mittels Heirat in die – vermeintlich - bessere russische
Gesellschaft zurückzuführen. Auch wenn im finanziellen Bieterstreit um
Nastassja Filippnowna am Ende der Kaufmannssohn die Oberhand behält, zeigt sich
der einstmalige Epileptiker Myschkin, durch seine eigene Krankheit sensibilisiert,
mit der von der Gesellschaft verstoßenen Luxus-Prostituierten innerlich
verbunden. Er erkennt ihre Verletztheit, aber bis auf empfindsame Worte der
Zuneigung kann er ihr nicht genug bieten. Der Selbsthass der als Kind
geschändeten Nastassja Filippnowna sitzt zu tief, sie wählt mit Rogoschin ihren
eigenen Untergang.
Das wandlerische Bühnenbild von Johannes Schütz |
Aus der Rückwand des ganz in Weißgrau gehaltenen Bühnenbilds
können die Schauspieler nach Belieben Schiebewände herausziehen und so Flure,
Hinterzimmer und Wohnräume schaffen. Auf der Zugfahrt nach St. Petersburg sitzen
die Schauspieler auf Koffern, drängen sich in 3. Klasse-Abteile und formen pfeifend
und zischend die Geräuschkulisse. Beim Abbremsen und ruckartigen Anfahren des
Zugs schaukeln ihre Körper synchron vor und zurück. Bei diesem Spektakel gerät
der Zuschauer ins Staunen, ganz eingenommen von dieser imaginären Zugfahrt.
Die Schauspieler sind in Hartmanns Inszenierung sowohl Darsteller
als auch Erzähler. Das Ensemble spricht Dialoge, Spielanweisungen und
Kommentare („Man hörte Lachen“, „Die Damen häkelten“). Das ist ein genialer
Kunstgriff, der Distanz in zwei Richtungen schafft: er distanziert die
Schauspieler gegenüber der eigenen Rolle, und er macht den Besucher zu einem Voyeur,
der durch die allwissenden Kommentatoren zum Mitwisser wird, so dass er den Weg
in den Abgrund wie aus einer Retrospektive sieht.
Zwei Außenseiter geben einander Halt |
Perspektivwechsel werden geschickt dadurch erreicht, indem Sätze
mittendrin den Sprecher wechseln. Es kommt auch zu paradoxen Momenten, in denen
Erzählung und Handlung einander widersprechen. General Jepantschin (Jan Maak) beispielsweise
sagt solange "Gawrila sah zu Boden", bis dieser den Kopf senkt. Eine
Machtprobe. Der Roman wurde sehr klug von der Dramaturin Janine Ortiz bearbeitet.
Sie hat die Geschichte auf die zwei Außenseiter Nastassja Filippnowna und Myschkin
fokussiert und dabei der Geschichte trotzdem russische Seele verliehen.
André Kaczmarczyk mimt den Fürsten Myschkin als wunderbaren
Traumtänzer. Yohanna Schwertfeger überzeugt in ihrer Wandlung vom geschändeten
Kind zur unschuldigen Lolita und unglücklichem Vamp, der die Männer dennoch betört.
Der Bieterwettstreit um sie weckt Erinnerungen an „Verrückt nach Mary“, aber
das tut der Sache keinen Abbruch. Herausragend in den Nebenrollen waren die Auftritte
von Rosa Enskat in der Rolle der neurotischen Generalin Jepantschin und Jan
Maak in der Doppelrolle als versoffener Exgeneral Iwolgin und als katzbuckelnder
Kammerdiener des General Jepantschin.
Gut trifft auf Böse, das Böse setzt sich durch. Die
Begegnung mit dem ehrlichen, an Geld, Ruhm und Anerkennung nicht interessierten
Myschkin lässt keinen der Protagonisten kalt. Aber sie werden durch ihn nicht
geläutert. Myschkin geht in der kalten Welt um Macht, Geldgier und Gewalt unter.
Mit vier Stunden ist das Stück etwas zu lang geraten.
Die
Zuschauer auf Kampnagel zollen der schauspielerischen Leistung Anerkennung, vereinzelt
gibt es Bravorufe, aber die Luft ist verbraucht, und erschöpft wendet man sich den
Ausgängen zu.
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