Warum wir Lust an der Angst empfinden - „Grimmige Märchen“ beim Hamburger Theaterfestival

von Katrin Dürwald
Ein riesiges Sofakissen, in klassisch-geometrischem Stickmuster aus Rot-Gelb dominiert die Bühne. Es liegt mit Knautschkante, wie von Oma dorthin drapiert, schräg im Raum und stößt oben rechts fast an die Decke eines in Gold gefassten Bühnenrahmens. Acht verängstigt wirkende Märchenfiguren stehen oder quetschen sich in den Raum zwischen Kissen und Decke. Ihre Augen sind vor Angst unnatürlich geweitet, und dem Zuschauer beginnt Böses zu schwanen. Auf ein von Donnerhall begleitetes Türknarzen hin werfen sich die Gestalten auf den Boden des Kissens. Panisch kauern und verstecken sie sich. Die Figuren kommen einem trotz grotesker Verfremdung irgendwie bekannt vor: Frau Holle, Rotkäppchen, König Drosselbart, Schneewittchen und Rapunzel, aber auch der Hutmacher aus „Alice im Wunderland“ ist mit von der Partie.
Hamburger Theaterfestival "Grimmige Märchen" des Schauspielhauses Zürich

Was folgt, ist eine Menge Slapstick und Akrobatik. Die Schauspieler erobern das Kissen und kriechen oder hüpfen über ein verborgenes Trampolin zu den höher oder niedriger gelegenen Kissenpartien. Immer wieder finden sie zu einem Menschenhaufen zusammen und starren – ähnlich wie Erdmännchen in einem Disney-Film - mit hervortretenden Augäpfeln ins Publikum. Blassfarbige Kontaktlinsen verstärken diesen Effekt noch. Es ist schaurig schön, das anzusehen, wobei man staunend rätselt, wohin der Abend noch führen wird.

Spätestens seit der Reformpädagogik der 70er Jahre ist uns klar, dass Märchen von Gewalt durchzogen sind. Abgehackte Gliedmaße, Menschenfresser, böse Mütter – alles wurde bereits verarbeitet. Regisseur Herbert Fritsch schafft es, durch das Verweben zweier Märchen in eine Erzählung – in diesem Fall Schneewittchen und Hänsel und Gretel – alles geschickt auf das Stereotyp der bösen Mutter zu verdichten. Diese Technik verwendet er gleich mehrmals, so dass im Zuschauer ein Rätseln darüber beginnt, welches Märchen gerade gespielt wird. Das liegt auch daran, dass nicht allein Grimm’sche Märchen verarbeitet werden. „Der Bauer schickt den Jockel aus“ gehört zu den dramatischen Höhepunkten des episodenhaften Stücks. Aus dem Jockel wird der Jockli und alle Protagonisten der Zählgeschichte werden schweizerisch verniedlicht. Im heulerischen Singsang wiederholen die Schauspieler die grausame Geschichte über Aufsässigkeit und Bestrafung – es gibt Zwischenapplaus für diese Darstellung. Sie ist auch ein Verweis darauf, dass das Stück eigentlich aus dem Schauspielhaus Zürich stammt.

Hüstelndes Lachen gibt es auch für die auf einen Limerick verkürzte Geschichte vom „Armen Jungen im Grab“, wunderbar verdrießlich von Nicolas Rosat vorgetragen, dessen Arm nach seinem Ableben noch aus dem Grab ragt, so dass die Mutter ihn abhacken und neben ihn legen muss. Chemnitz lässt grüßen!

In Erinnerung bleibt auch die Einzelleistung von Florian Anderer alias „Der gescheidte Hans“. Ähnlich minderbemittelt, dabei aber sympathisch springt er zwischen seiner Freundin Grethe und seiner Mutter hin und her, und dabei tritt er ordentlich aufs Gaspedal! Irgendwann fliegt er über das Kissen hinaus, schlägt mit dem Kopf gegen die goldene Wand, und es ist ein Loch darin. Er muss selbst darüber lachen, nimmt dann erneut Tempo auf und schlägt Purzelbäume übers Kissen.

Dann aber geht die Gruselorgie weiter: da wird gemordet, Mädchen landen auf dem Scheiterhaufen und Kinder werden vor Hunger gekocht und gegessen. Trotz der grausamen Action auf der Bühne merkt man, dass sich der Spannungsbogen angesichts der Episodenhaftigkeit der Erzählungen nicht ewig aufrechterhalten lässt. Dies scheint auch Fritsch erkannt zu haben. Er schickt König Drosselbart auf die Bühne, der das Märchen verlässt und sich als Schauspieler zu erkennen gibt. Er bekommt einen imaginären Anruf aufs Handy, bei dem er selbst nicht zu Wort kommt. Die „Hmms“ und „Jaas“ ziehen sich hin – das Gespräch nimmt scheinbar kein Ende, und das Publikum fragt sich, was jetzt noch kommen soll. Als Fabeltiere verkleidet kriechen die Schauspieler aus dem Kissen hervor und bilden den Abschluss eines überaus spaßreichen Abends.

Fritsch hat in „Grimmige Märchen“ die Lust an Gewalt und Angst Tarantino-mäßig inszeniert. Im Gegensatz zu Tarantino ist es aber eher die Sprache, die Gewalt ausdrückt. Zum Glück wissen wir, dass das, was uns das Fürchten lehrt, nicht real ist. Doch wir lieben das anschließende Wohlgefühl, wenn der Schrecken nachlässt.
Hamburger Theaterfestival "Grimmige Märchen" des Schauspielhauses Zürich


Grimmige Märchen
Grimmige Märchen von Herbert Fritsch
Regie und Bühne: Herbert Fritsch; Kostüme: Victoria Behr; Licht: Gerhard Patzelt; Dramaturgie: Evy Schubert.
Mit: Florian Anderer, Henrike Johanna Jörissen, Claudius Körber, Elisa Plüss, Anne Ratte-Polle, Nicolas Rosat, Markus Scheumann, Friederike Wagner.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Per Segway über Ohlsdorf Friedhof - Fahrerlebnis in wunderbarer Parklandschaft

„My Polish heart“ – macht neugierig auf Mehr

Dumm und lustgeil durch die Welt - Comedian Dietmar Wischmeyer in der Markthalle