Russell Harris versetzt Hamburger imaginär in die Royal Albert Hall – pompöse Last Night of the Proms


von Katrin Dürwald

Zum zweiten Mal leitet Russell Harris die Last Night, und er und das KlassikPhilharmonie-Orchester Hamburg werden mit rhythmischem Klatschen begrüßt. Er genießt das sichtlich. Vorsichtshalber erwähnt er, dass die erste Hälfte des Konzerts ernst sei; Schabernack solle man erst später treiben. Das Orchester beginnt beschwingt mit Verdis „Un Giorno di regno“. Was dann folgt, ist eine Klangexplosion. In einem rauschenden dunkel-glänzenden Chiffonkleid betritt die Sopranistin Christina Rümann die Bühne und steigt direkt ein in die melodramatische Verdi-Arie „Sempre Libera“ aus dem ersten Akt von „La Traviata“. Ihre Stimme füllt den Saal der Laeiszhalle mühelos. Sauber akzentuiert sie die Sprache, und es macht Spaß, ihrem Mienenspiel zuzusehen, das den Inhalt der Arie verdeutlicht. Sie erhält anhaltenden Beifall für diese Leistung. Der erste Konzertmeister des Orchesters spielt eine sehr gelungene Version von Jules Massenet „Mediation“ aus „Thais“. Dann betritt Frederic Belli die Bühne. In der Hand hält er eine Posaune, und er wirkt so jung, dass man ihn eher für ein Mitglied von „La Brass Banda“ hält. Aber tatsächlich ist er bereits Solokünstler des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden. Tja, so kann man sich täuschen. Er spielt das Conzertino Op. 4 des Hamburger Künstlers Ferdinand David, und er wird mit „Bravo“-Rufen und ausdauerndem Applaus belohnt. Mit der Orchesterfassung von Borodins „Polowetzer Tänzen“ aus „Fürst Igor“ wird das Publikum in die Pause verabschiedet.
Last Night of the Proms Hamburg KlassikPhilharmonie

Tröten quäken und Knackfrösche knattern, als Russell Harris mit Bernsteins „West Side Story“ die zweite Hälfte des Konzerts einläutet. Schnell wird es wieder ruhig, denn dieses beschwingte Medley anlässlich des 100. Geburtstags Leonard Bernsteins möchte man sich nicht entgehen lassen. Mit strotzender Weiblichkeit trägt Christina Rümann „Glitter and be Gay“ aus „Candide“ vor. Sie rollt mit den Augen, drückt Erstaunen aus und lacht dann wieder verführerisch, und auch sonst geizt sie nicht mit ihren Reizen. Man kann niemandem vorwerfen, dass der Blick zuweilen vom Gesicht der Sängerin auf das pralle Dekolleté abschweift. Damit will ich die gesangliche Leistung überhaupt nicht kleinreden. Im Gegenteil: sie beherrscht die hohen Register und ist in der Lage, Stimme und mimische Darstellung perfekt aufeinander abzustimmen.

Die musikalische Überraschung aber bereitet der junge Posaunist Frederic Belli dem Publikum: er spielt eine unheimlich warme Variante von Astor Piazollas „Oblivion“, eine Musik, die man eher mit dem Bandoneon verknüpft. Dass ein so durchdringendes Instrument so viel Zartheit in sich trägt, ist eine neuartige Erkenntnis, die den Abend einzigartig erscheinen lässt. Als der junge Künstler sich dann auch noch dazu überreden lässt, mit der Posaune Rimsky-Korsakoffs „Hummelflug“ zu spielen, ist das Publikum völlig aus dem Häuschen.
Last Night of the Proms - Russell Harris in der Laeiszhalle

Harris hatte das Publikum schon vor der Pause gewarnt, es solle nicht zu viel Alkohol trinken, denn dann würde das Risiko bestehen, beim Singen die Konsonanten zu verlieren. Jetzt wird geübt – und zwar im Stehen, denn es steht „Rule Britannia“ auf dem Programm. Und Harris möchte ein deutlich rollendes „R“ hören, in beiden Wörtern. Und er möchte es beschwingt und stolz hören, als hätten die Hamburger gerade mal auf die andere Seite des Ärmelkanals gewechselt. Nach einigen Wiederholungen ist er mit dem Stimm-Material zufrieden, und wenig später ertönt ein kräftiges „Rule BRitannia! – BRitannia Rule the waves, BRitons never will be slaves“. Dazu werden munter Flaggen aller Nationen geschwenkt. Das dem Publikum unbekanntere „Jerusalem“ von Hubert Parry wird von einer Klarinette unterstützt, und zu Edward Elgar’s „Pomp and Circumstance“ regnet es haufenweise Luftballons. Was für ein pompöser Abschluss! – Der Anspruch der Last Night hat sich spürbar verändert. Ihr Erfinder und langjähriger Dirigent Robert Stehli hatte sie als kleine Schwester des Londoner Pendants gelebt, mit Hamburger Understatement und Gediegenheit. Das ist seit zwei Jahren anders, denn Harris ist eine echte Rampensau. Auch das ist nicht negativ gemeint. Aber es könnte in den kommenden Jahren zunehmend schwerer werden, an Tickets zu kommen. Denn das Format könnte irgendwann auf die Elphi hinauslaufen.
Frederic Belli, Christina Rühmann, Russell Harris


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