Geschichten voller Melancholie erfüllen das St. Pauli-Theater – Seethaler liest aus „Das Feld“


Moderatorin Julia Westlake schwankt zwischen belanglosen Fragen und hilfloser Schmeichelei

von Katrin Dürwald

Spätestens seitdem ich im vergangenen Sommer „Ein ganzes Leben“ verschlungen hatte, war mir klar, dass ich den Menschen hinter dem Roman, Robert Seethaler, gern in einer Lesung erleben würde. Das Harbourfront Festival bot dazu Gelegenheit. Schnell eine Karte gekauft und ab ins St. Pauli-Theater am vergangenen Sonntag.

Die Moderation hat Julia Westlake. Die Bühne ist hell ausgeleuchtet, das Publikum sitzt im Verborgenen. Robert Seethaler hält sich die Hand vor die Augen und sagt, er sehe ja gar nichts. Er macht deutlich, dass es ihm unangenehm sei, auf der Bühne zu sein. Westlake lacht, weil Seethaler ja auch Theater spielt. Er erklärt, dass er schon als Kind aufgrund seiner schlechten Augen eine dickglasige Brille trug und auf eine Grundschule für Sehbehinderte gegangen sei. Er habe dann die Flucht nach vorn angetreten und sich vom Klassenclown zum Theater entwickelt. Seine Scheu vor der Bühne habe er dadurch aber nicht verloren.

­Westlake lobt sein neues Buch, „Das Feld“. Das Feld steht für einen Friedhof in einer fiktiven Kleinstadt. In 29 Geschichten erzählen die dort Begrabenen Begebenheiten aus ihrem Leben. Westlake fragt ihn, warum er die Geschichten aus der Totenperspektive geschrieben habe. Seethaler lacht verschmitzt und sagt, dass man Geschichten aus dem Leben immer erst rückwirkend erzählen kann. Aber er ergänzt ernst, dass er sich mit seinem eigenen Tod beschäftigt habe, und dass die Angst vorm Sterben ihn darauf gebracht habe, die Geschichte aus dieser Perspektive erzählen zu wollen. Die Moderatorin merkt ihm an, dass er sich unwohl fühlt, weiß aber keinen Ausweg außer ihm gut zuzureden. Er mache das schon. Seethaler beginnt in Extrakten aus dem Buch zu lesen. Ein Hauch von Vanitas überzieht den Saal, die Melancholie der Sprache zieht einen in den Plusquamperfekt – die nackte, vollendete Vergangenheit. Klar, da ist auch Humor, aber im Wissen darum, dass hier Tote zu einem sprechen, wirkt es sarkastisch, es kommt zu nicht mehr als einem Schmunzeln über die von Lebenslügen und Beschönigungen durchzogenen Erinnerungen. Die jeder für sich ja kennt. – Und die Seethaler schonungslos genau und doch auch liebevoll beschreibt.

Warum 29? – Seethaler sagt, er hätte noch mehr in petto gehabt, aber der Verlag habe eine Grenze gesetzt. Die Fragen von Westlake sind belanglos. OK, sie ist nicht Biolek und auch kein Willemsen. Aber es ist schon schade, dass die Moderatorin entweder langweilige Fragen an Seethaler richtet oder ihm Honig um den Bart schmiert.  Immerhin erfahren seine Leser oder Leseinteressierten, dass er derzeit nicht schreibt, sondern seinen Kopf erst leerbekommen muss. – Man hätte mehr über ihn erfahren können, denn so schonungslos er mit seinen Protagonisten umgeht, so geht er auch mit sich selbst um. Aber diese Chance wurde vertan.

Seethaler, der Knut Hamsun unserer Tage, hat geliefert – Westlake nicht. Eine schöne Lesung, deren Moderation weit unter den Erwartungen bleibt.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Per Segway über Ohlsdorf Friedhof - Fahrerlebnis in wunderbarer Parklandschaft

„My Polish heart“ – macht neugierig auf Mehr

Dumm und lustgeil durch die Welt - Comedian Dietmar Wischmeyer in der Markthalle