Fazil Say und Marianne Crebassa von romantisch verklärt bis mahnend politisch


von Katrin Dürwald
„Fazil Say hat sich darüber geärgert, dass er heute Klavier üben muss, wo er doch am liebsten WM schauen würde“, erklärt mir Tülay, die ein Fan des türkischen Pianisten ist und ihm auf Facebook folgt. Das finde ich sehr sympathisch, denn ich habe auch nicht immer Lust, meinen Pflichten nachzukommen. Fazil Say ist schon oft in Hamburg aufgetreten, war 2011 auch bei Schleswig-Holstein-Musik-Festival aktiv, aber dies ist meine erste Begegnung mit ihm. Er tritt auf mit der gerade mal 31jährigen, französischen Mezzosopranistin Marianne Crebassa, einer zartgebauten Brünetten mit langen Haaren.
Fazil Say, Elbphilharmonie, Hamburg, Marianne Crebassa
Crebassa singt unter Begeitung des Pianisten Fazil Say französische Lieder der Spät-Romantik

Am kleinen Saal der Elphi missfällt mir vor allem seine enge und spartanische Bestuhlung. Ich habe jedes Mal den Eindruck, sie hätten wieder eine Stuhlreihe mehr hineingedrückt.

Der Abend beginnt mit drei Melodien von Debussy. Crebassas Stimme ist glockenrein und durchdringt mühelos die Tiefe des Raums. Dank ihrer sauberen Artikulation versteht man die französischen Liedtexte hervorragend, zur Sicherheit kann man den deutschen Text auch im Programmheft nachlesen. Crebassa gilt als „Rising Star“ in der Opernszene und wurde gerade als Sängerin des Jahres 2017 geehrt. Die Lieder geben allenfalls einen bescheidenen Einblick in ihr Können, eindrucksvoller stelle ich sie mir in einer Opernrolle vor. In der Staatsoper würde sie herausragen. Fazil Say begleitet den Gesang behutsam und lässt ihr galant den Vortritt. Wie immer bei Liederabenden herrscht im Publikum ein wenig Unsicherheit, wann Applaus angebracht ist. Schließlich steht auch im Programmheft, dass man nicht zwischen den einzelnen Liedern klatschen soll. Darum setzt der Beifall mit Verzögerung ein. Ehrliches und hartnäckiges Klatschen begleitet die Sängerin beim Abgang von der Bühne. Kurze Zeit später spielt Say die Trois Gnossiennes, eins meiner Lieblingsstücke von Satie. Fazil Say kostet die Synkopen genüsslich aus; er lässt den rechten Arm schlaff herunterhängen, oder er hebt die Hand wie ein Zen-Meister im Augenblick höchster Konzentration. Das Publikum fiebert bei diesen Verzögerungen mit und juchzt innerlich bei der Rückkehr in die Melodie. Das ist ganz großes Kino!

Es folgen zwei Préludes von Debussy. Im ersten Stück, La cathédrale engloutie (Die versunkene Kathedrale) schafft Debussy Klangbilder einer tosenden See. Er verarbeitet darin die Legende um die untergegangene Stadt Ys. Die reiche Stadt in der Bretagne soll einst in einer stürmischen Nacht in den Fluten verschwunden sein. Im zweiten, frecheren Stück, den Minstrels, geht es um Debussys Beschäftigung mit den amerikanischen Minstrel Shows, die im späten 19. Jahrhundert bei Industriearbeitern beliebt waren und bei denen sich Weiße als Schwarze verkleideten. Mit artistischer Fingerfertigkeit macht Fazil Say deutlich, dass er wohl tatsächlich keine WM geguckt hat.
Mit dem intensiv-mythischen Liederzyklus „Shéhérazade“ von Maurice Ravel werden die Besucher beseelt in die Pause entlassen. Danach geht es klassisch weiter mit Gabriel Fauré und Henri Duparc, wobei mir letzterer mit den Stücken „Chanson triste“ und „Au pays où se fait la guerre“ mehr zusagt. Allein der Hinweis des Programmhefts, dass er aufgrund einer Nervenerkrankung nur ein schmales Oeuvre hinterlassen hat, erweckt mein Mitleid und intensiviert die Melancholie dieser Lieder. Crebassa interpretiert die Melodien mit viel Empathie.

Neugierig erwartet das Publikum die Eigenkompositionen Fazil Says. Say ist ein sehr politischer Mensch und jemand, der mit seiner Musik seine Haltung gegenüber Straßenkämpfen und Gewalt in Istanbul Ausdruck verleihen will. Sein Stück Gezi Park 2 op. 52 beginnt mit dem Satz „Istanbul sokaklarinda drensiş geceleri“ (Von den Nächten des Widerstands in den Straßen von Istanbul). Schräge Basstöne herrschen vor, die hohen Töne verstärken die Bilder eines Kampfes mit ungleichen Mitteln. Im zweiten Satz „Gaz bulutunun sessizliǧi“ (Von der Stille der Gaswolke) fühlt man sich angesichts wiederholt abwärts gewandter Quarten fast erdrückt, und so lautmalerisch geht es weiter. Er erntet stehenden Applaus, und ich sehe, wie gerührt viele Besucher mit türkischen Wurzeln angesichts des ergreifenden Kopfkinos sind. – Für das Stück Gezi Park 3 op. 54 schlüpft Crebassa in die Rolle einer trauernden Frau. Die Melodie ähnelt einem orientalischen Klagegesang und besteht nur aus einzelnen Vokalen. Es fordert das klassische Publikum, aber die Bedeutung wird jedem klar. Als Zugabe dient eine Opernarie aus Mozarts "Hochzeit des Figaro" und Gershwins „Summertime“ aus Porgy und Bess, das Say/Crebassa in eine Speedvariante verwandeln. Das Publikum applaudiert intensiv und anhaltend.

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