Schwer verdaulich, aber mit lichten Einfällen inszeniert – „Rose Bernd“ im Schauspielhaus


von Katrin Dürwald
Heimatvertriebene werden das nicht gern lesen, aber ich halte Schlesisch für tot. Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg haben diese Sprache, die damals von sieben Millionen Menschen gesprochen wurde, zerstört. Mehr als 70 Jahre danach habe ich nicht einmal mehr eine Vorstellung davon, welche Eigentümlichkeiten diese Sprache aufweist. Nach meinem Besuch des Stückes „Rose Bernd“ von Gerhart Hauptmann im Hamburger Schauspielhaus habe ich nun eine rudimentäre Vorstellung davon: ein hochdeutsches „ei“ wird zu einem langgezogenen „ee“, es gibt doppelte Verneinungen wie „nie nuscht“ oder ein „ooch“ für „auch“. Es gibt rollende „R“s, und es ist für einen Norddeutschen schwer verständlich.

Regisseurin Karin Henkel scheint sich das auch gedacht zu haben und hat den Text nur bei bestimmten Ausdrücken mit schlesischem Klang versetzt, um ihn verständlich zu halten. Allerdings bringt das mit sich, dass man den Schauspielern den Dialekt nicht abnimmt. Es entwickelt sich zu einer Kunstsprache, die es so vermutlich nirgends gegeben hat. Bei mir hat sie es damit leicht. Trotzdem wirkt die Sprache gekünstelt bäuerlich und aufgesetzt, und das bei fast allen Schauspielern. Allenfalls Gregor Bloéb als Arthur Streckmann gelingt es, das Schlesische natürlich klingen zu lassen. Bei Lina Beckmann alias Rose Bernd klingt es leider nach einem Sprachfehler mit gelegentlichen Knacklauten, den sie bereits in früheren Rollen eingesetzt hat. Ich frage mich daher, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, das Stück auf hochdeutsch aufzuführen.

Beeindruckend ist gleich das erste Bild: aus einer erhöhten Position steht Rose Bernd da, und ihr Lachen hallt akustisch verstärkt unheilschwanger durch den Saal. Sie trägt einen an Tracht erinnernden Kopfputz, hinter dem verfremdet das bleiche Gesicht einer Geisha hervorlugt. Ein Mann nimmt sie von hinten – das Gespräch beim Akt bleibt geschäftlich, denn Rose will das geheime Verhältnis zum Dorfschulzen Flamm (Markus John), einem verheirateten Mann, beenden. Sie werden beim Sex von Arthur Streckmann beobachtet, der Rose daraufhin bedroht, er werde sie bei ihrem Verlobten verpfeifen. Rose deutet in Gesprächen an, dass sie ein Kind erwartet: „mir is ... 's passiert a Unglicke!!“ Aber das will keiner der Männer um sie herum begreifen, nur das Publikum weiß Bescheid. Die Einzige, die das ebenfalls sofort erkennt, ist Frau Flamm (Julia Wieninger), und damit die denkbar schlechteste Wahl für ein Bekenntnis über den Kindsvater. So schweigt denn Rose und begibt sich mit deutlichem Widerwillen in die ehrenrettende Ehe mit spastisch gelähmten August Keil, gespielt von Maik Solbach. Eine Gruppe Männer tut immer wieder in rhythmischem Sprechgesang kund, welche Regeln Frauen oder Männer einzuhalten haben. Rose Bernd entflieht den Konventionen in Gedanken, überlegt, das Dorf zu verlassen, das Kind allein woanders großzuziehen. Aber es bleibt doch nur Fantasie. Im Gegensatz zum Roman wird der Mord am eigenen Kind nicht deutlich. Was bleibt, ist eine hilflose Rose, die an ihrem eigenen Unglück zerbrechen wird.

Mit dem Bühnenbild konnte ich nicht viel anfangen. Ein flacher achteckiger Eisentunnel mit seitlicher Beleuchtung rahmt das Geschehen ein. Ein Holzbohlenweg bildet ein mächtiges Kreuz auf dem Boden, dazwischen schwarzer Sand. Tauben flattern in seitlich angebrachten Käfigen, zweien wird der Hals umgedreht, ein in weißlichem Neon erleuchtetes Kreuz steht schief am linken Ende der Bühne. Dorfleben im Grufti-Milieu.

Lina Beckmann gelingt es, Rose Bernd als das „gefallene Mädchen“ ohne Reue darzustellen. Sie ist gerade eins nicht: die Unschuld vom Lande. Rose nutzt ihre Anziehungskraft, sie gibt sich hin, will keine arrangierte Ehe und macht sich ihre eigene Vorstellung davon, wie ihr Leben aussehen könnte. Es ist der Traum vieler Frauen bis heute. Das Wesentlichste, was Frauen seit der Uraufführung des Stückes 1903 besser im Griff haben, ist die Schwangerschaftsverhütung. Aber bis heute balanciert eine Frau, die sexuell frei lebt, am Abgrund zur gesellschaftlichen Ächtung als „Schlampe“. Ein ungewolltes Kind wird heute immer noch ermordet, aber das geschieht zumeist nach dem positiven Schwangerschaftstest und ist gesetzlich sanktioniert. Übertragen in die heutige Zeit würde das bedeuten, dass Rose Bernd einfach nur den richtigen Zeitpunkt versäumt hat. Die Ausweglosigkeit der ungewollten Schwangerschaft ist nach heutiger Moralvorstellung vielleicht schwer nachvollziehbar, aber das dauernde, alles verschlimmernde Verschweigen ist zeitlos. Man fühlt ihren Druck, möchte ihr zurufen: „raus mit der Sprache!“ und versteht ihre Sprachlosigkeit. Hauptmanns Stück gibt eine Vorstellung davon, wohin das Verschweigen oder Sich-Nicht-Bekennen Amokläufer, Attentäter und Selbstmörder führen kann.

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