Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ im Thalia – notwendige Mahnung gegen das Vergessen
von Katrin Dürwald
Fliegeralarm und heulende Sirenen katapultieren den Besucher in die Kriegszeit der frühen 40er Jahre. Auf der Rückwand der Bühne sieht man aus der Vogelperspektive ein rudimentär nachgebildetes graues Stadtmodell. Es entstehen düstere Erinnerungen an die Ruinenstädte im Kopf. Am Boden dieser Wand liegen Haushaltsgegenstände aus der Zeit, die an Ausbombung und Flucht erinnern, gleichwohl aber auch erdrückende Ähnlichkeit mit den Kleiderhaufen aus den Konzentrationslagern haben. Auf der Bühne steht ein Tisch, sie ist ansonsten leer.
Fliegeralarm und heulende Sirenen katapultieren den Besucher in die Kriegszeit der frühen 40er Jahre. Auf der Rückwand der Bühne sieht man aus der Vogelperspektive ein rudimentär nachgebildetes graues Stadtmodell. Es entstehen düstere Erinnerungen an die Ruinenstädte im Kopf. Am Boden dieser Wand liegen Haushaltsgegenstände aus der Zeit, die an Ausbombung und Flucht erinnern, gleichwohl aber auch erdrückende Ähnlichkeit mit den Kleiderhaufen aus den Konzentrationslagern haben. Auf der Bühne steht ein Tisch, sie ist ansonsten leer.
Ich erinnere mich, dass bei einem früheren Besuch des Stücks
ältere Menschen beim Sirenenlärm das Theater fluchtartig verließen und nach der
Pause nicht mehr zurückkehrten. Aber auch manch einem jüngeren Besucher
sträuben sich die Nackenhaare, und die Schulklasse vor mir ist nicht mehr so zu
Scherzen aufgelegt wie zu Beginn des Stücks. Ich möchte jedem Schüler, der sich
mit der Nazizeit beschäftigt, empfehlen, sich die großartige Inszenierung von
Luk Perceval anzusehen. Es handelt von anfänglicher Begeisterung, Mitläufertum,
der eigenen Schuld, dem Sich-Durchlavieren und Widerstand ohne Kamikaze. Es
handelt von Spitzeln, verhängnisvollen hierarchischen Beziehungen und Verrat.
All das läuft hinaus auf den Schlüsselsatz „Anständig bleiben oder sterben“,
der in dieser Zeit des Krieges und des Terrors in ein „Anständig bleiben UND
sterben“ mündet.
Das Ehepaar Anna und Otto Quangel verliert seinen einzigen
Sohn im Krieg, der Mann der Jüdin Rosenthal wird verschleppt und die Aussicht,
jahrelang einsam in einem Versteck leben zu müssen, treibt sie in den
Selbstmord, Kleinganoven dienen der Gestapo als Informationszuträger, der
Postbotin Eva Kluge wird klar, dass sich ihr Sohn als SS-Soldat an Gräueltaten
in Polen beteiligt. In diesem bedrückenden Umfeld entscheiden sich die
Quangels, in Blockschrift verfasste Postkarten mit Aufrufen gegen den Krieg und
gegen den Führer in Berliner Häusern auszulegen.
Reizvoll finde ich, dass die Schauspieler ständig zwischen einem
„Aufgehen in der Rolle“ und erzählerischem Kommentieren der Handlung wechseln.
So spricht Otto Quangel direkt mit seiner Frau, dann löst er sich aus der Rolle
und kommentiert als auktorialer Erzähler, welche Gedanken Quangel umtreiben.
Das schafft Distanz und gibt dem Publikum das Gefühl, bereits mehr den Protagonisten
zu wissen und sorgt für böse Vorahnungen.
Das Konzept der Nebenrolle gibt es in diesem Stück gar nicht,
denn diese Charaktere bespielen die Schauspieler gleich in Doppel- und
Dreifachrollen. Herausragend dabei Gabriela Maria Schmeide, die Frau Rosenthal,
Hete Häberle und Kriminalrat Zott spielt. Sie brilliert vor allem als
Zoohandlungsbesitzerin Hete Häberle. Das „späte Mädchen“ hängt ihr Herz an den
arbeitsscheuen Kleinkriminellen Enno Kluge und will ihn aus den Fängen der
Gestapo befreien, aber es gelingt ihr nicht.
Auf der Jagd nach dem „Klabautermann“, dem
Postkartenschreiber von Berlin, gerät Kriminalkommissar Escherich (ruhig und
grüblerisch gespielt von André Szymanski) zunehmend unter Druck von
SS-Obergruppenführer Prall (echt fies gespielt von Barbara Nüsse!). Um sich
selbst Luft zu verschaffen, drängt Escherich den leicht beschränkten und faulen
Enno Kluge (hervorragend und liebevoll gespielt von Daniel Lommatzsch) zu einer
Unterschrift unter ein Vernehmungsprotokoll. Doch Prall reicht das nicht, er
sieht in Kluge nun den Täter. Escherich, selbst kein überzeugter Nazi und
bereit, jederzeit sein politisches Auge zuzudrücken, ermordet Kluge, um die eigene
Haut zu retten.
Wer einen von Anfang an förmlich ankotzt, ist der stadtbekannte
Spitzel Emil Barkhausen. Im übertrieben kumpelhaften Berlinerisch schleimt er
um Informationen, jederzeit bereit, sie an den Nächstbesten gegen Geld und
Vergünstigungen weiterzugeben. Ich bin beeindruckt, wie überzeugend Alexander
Simon den Mann aus der Gosse verkörpert. Auch er scheitert am Ende. Das
Blutgeld wird ihm geklaut, und sein Sohn wendet sich von ihm ab.
Eine der im Gedächtnis stark haftend bleibenden Szenen ist
die, als der sturzbesoffene Prall den Kommissar Escherich zu Ergebnissen drängt
und ihm Untätigkeit vorwirft. Wie Rülpser stößt Prall immer wieder zwischen
seinen Drohungen „Heil Hitler“ aus, und der Kommissar antwortet zwangsläufig
ebenfalls mit „Heil Hitler“ und hinten auf der Bühne klappt jemand die Hacken
zusammen und wiederholt den Ausruf mit ausgestrecktem Arm. Diese Handlung
wiederholt sich über das ganze Verhör, ein grotesker, schockierender Slapstick.
Auch ein besoffener Prall spielt noch immer auf der Klaviatur der Macht.
Die Quangels werden gefasst und sind dem Untergang geweiht.
Das Unglück zieht weitere Kreise, denn man sucht nach Mitwissern und findet sie
mithilfe subtiler Verhörmethoden. Quangels wollen ihr Sterben absprechen, aber
auch das gelingt nicht, denn wie der Titel des Stücks es besagt: Jeder stirbt
für sich allein.
Die letzte Szene zeigt einen hell erleuchteten Pferdekarren,
auf dem sich nach und nach alle Opfer des Regimes versammeln. Auf dem Bock des
Gespanns sitzt die aufs Land geflohene Postbotin Kluge, die mit einem Sohn des
Spitzels Barkhausen einen Neuanfang wagen will. Man meint den Frühling zu
erahnen und Vogelgezwitscher zu hören.
Das Stück ist ein Parforceritt über viereinhalb Stunden und
verlangt den Schauspielern Höchstleistungen ab. Aber auch das Publikum wird
gefordert. Längst nicht alle schaffen es, bis zum Schluss dabei zu bleiben. Das
Publikum dankt den Schauspielern mit leicht erschöpft wirkenden „standing
ovations“; die Besucher sehnen sich während des Applaudierens bereits nach
ihrem Bett.
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