Fasziniert von der geballten Melancholie vierer Männer: Schubert – Goerne – Kentridge - Hinterhäuser
Erster März, meteorologischer Frühlingsanfang: Draußen
herrscht ein eisiger Wind. Bei minus 8°C driften Eisschollen auf der Elbe. Drinnen
steht „Die Winterreise“ von Schubert auf dem Programm, im Großen Saal der Elbphilharmonie.
Welch eine prophetische Glanzleistung der Programmorganisation. Was mir gleich
auffällt: sie haben die hinter dem Bühnenhalbkreis liegenden Plätze nicht
verkauft. Das ginge auch nicht, weil hinter dem Flügel eine hohe Wand mit
blassen Zeichnungen aufgebaut ist. Sie erinnert ein wenig an das Zettel-Chaos des
schizophrenen John Forbes Nash aus dem Film „A Beautiful Mind“. Pianist Markus
Hinterhäuser und Bariton Matthias Goerne betreten die Bühne. Kaum hat Goerne zu
singen begonnen, wird ein aus Einzelbildern zusammengeschnittener Trickfilm des
Künstlers William Kentridge auf die Wand projiziert.
Akustisch schwanke ich zwischen Begeisterung und
Enttäuschung. Ich bin begeistert über die schöne Stimme und die feinen
Abstufungen, die Goerne trifft und mit denen es ihm gelingt, die Texte zum
Leben zu erwecken. Ich bin enttäuscht, weil ich den Gesang als zu leise
empfinde. Ich würde gern näher ranrücken, würde mich gern direkt auf die Bühne
setzen. Wäre dieser Gesang im kleinen Saal der Laiszhalle besser aufgehoben?
frage ich mich. Aber da wäre der „kathedrale“ Sound nicht da. Einen Moment träume
ich davon, wie ein Regisseur bei den Proben allein in den Genuss dieser herrlichen
Musik zu kommen. Dann reißen mich kollektive Hustenanfälle im Publikum aus
meinem Traum. Wenn man den Texten aus dem Programmheft im Dunkeln folgen kann,
versteht man sie auch akustisch besser, aber dann entgehen einem die tollen Videoprojektionen.
Gerade bei den Liedtexten von „Wasserflut“ und „Auf dem Flusse“ gehe ich in den
Bildern Kentridges voll auf: aus einem großen Duschkopf ergießt sich ein
Schwall auf den Sänger, Wasserhähne speien, Waschbecken laufen voll und über, und
ich kann mich kaum sattsehen daran. Trotz aller feinen Fantasie bleiben die
Bilder melancholisch und düster. Menschen begegnen sich und verlieren sich
wieder, in Kohle und Tuschezeichnungen. Ich habe keine Vorstellung davon, wieviel
Zeit das Zusammensetzen dieser Bilder gekostet hat. Nach etwa einer halben
Stunde verstehe ich Goerne besser und frage mich, woran das liegt. Das Publikum
ist mucksmäuschenstill geworden, die Huster haben sich beruhigt oder ihre Bonbons
gefunden. Jetzt schließe ich manchmal die Augen und genieße diese tolle Stimme,
die perfekt auf ihren Begleiter am Flügel, Hinterhäuser, abgestimmt ist.
Höhepunkt der schmerzvollen Lieder ist „Der Leiermann“. Ich glaube, ich habe
ihn noch nie so gut gehört. Es gibt viel Applaus. Im Mondlicht der eingefrorenen
Hafencity summen einige Besucher noch die letzten Klänge nach. Ich sehn mich
nach Wärme und aufmunternden Gesprächen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen